Sexueller Missbrauch in der Kirche: Die Studie der Reformierten könnte die grösste Opfer-Umfrage werden, die es in der Schweiz je gab

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Nach den Katholiken planen auch die Reformierten eine Studie zum Ausmass von übergriffigem Verhalten im kirchlichen Umfeld. 80 000 Personen in der ganzen Schweiz sollen zu ihren Erfahrungen befragt werden.

Schweiz Eine Studie aus Deutschland hat gezeigt, dass Missbrauch auch in den reformierten Kirchen systematischen Charakter aufweist.

Eine Studie aus Deutschland hat gezeigt, dass Missbrauch auch in den reformierten Kirchen systematischen Charakter aufweist.

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Seit Jahren erschüttern Missbrauchsskandale die katholische Kirche. Die Fälle wurden lange verharmlost, verschwiegen, geleugnet. Doch nun werden sie vielerorts aufgearbeitet. In der katholischen Kirche ist ein Prozess im Gang, den nun auch die Reformierten anstossen. Es geht um ein Ende des Wegschauens. Und um ein Bekenntnis: Missbrauch findet auch bei uns statt.

Am Hauptsitz der Evangelisch-Reformierten Kirche Schweiz melden sich derzeit fast im Wochentakt Menschen, die Opfer von Missbrauch geworden sind. Dies sagt die Präsidentin der reformierten Kirche, Rita Famos, in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». Der Kirchenrat will nun Klarheit schaffen und plant eine Studie, um das Ausmass des Problems erforschen zu lassen. Am Freitag hat er einen Antrag an das Kirchenparlament, die Synode, verschickt.

Der Kirchenrat schlägt vor, eine repräsentative Umfrage durchzuführen. 80 000 Menschen aus der Schweiz sollen nach ihren Erfahrungen mit sexuellem oder seelischem Missbrauch befragt werden. Erhoben wird auch, in welchem Umfeld die Missbräuche passiert sind. So soll die Häufigkeit der Fälle im kirchlichen Umfeld mit der Häufigkeit in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Sportvereinen oder Schulen verglichen werden können.

Der Kirchenrat schätzt, dass die Studie 1,6 Millionen Franken kosten wird, und will dafür einen Teil der Reserven aufwenden. Das Kirchenparlament wird Mitte Juni darüber abstimmen.

Über 2000 Fälle bei Reformierten in Deutschland

Die Studie der Reformierten kommt vergleichsweise spät. Die katholische Kirche ist bereits daran, das Ausmass von sexuellem Missbrauch in ihren Kreisen wissenschaftlich erforschen zu lassen. Dafür gewährte sie einem Team um die Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier der Universität Zürich Zugang zu geheimen Archiven der Bistümer. Vergangenen Herbst wurden erste Ergebnisse präsentiert. Die Forscherinnen waren auf 1000 Fälle von Missbrauch gestossen.

Die Studie löste grosse Entrüstung aus und führte sowohl in der katholischen als auch der reformierten Kirche zu vielen Austritten. Laut Dommann und Meier handelte es sich bei den gefundenen Fällen jedoch nur um die «Spitze des Eisbergs». Es sei anzunehmen, dass viele Fälle gar nie gemeldet und in keinem Archiv dokumentiert worden seien. Die Historikerinnen empfahlen deshalb explizit eine quantitative Studie, wie sie nun die Reformierten planen.

In Deutschland haben die Reformierten bereits 2020 eine Studie lanciert, um das Ausmass von sexualisierter Gewalt in der Kirche zu untersuchen. In den Akten der Landeskirchen fanden die Forscher über 2000 Fälle, die sich nach 1945 ereignet hatten. Ein Vertreter der Betroffenen sagte über die Resultate: «Die Illusion, dass es Fälle von sexualisierter Gewalt in grossem Ausmass nur in der katholischen Kirche gegeben habe, ist ab dem heutigen Tag nicht mehr zu halten.»

Die Erkenntnisse aus Deutschland haben viele Reformierte in der Schweiz aufgewühlt. Plötzlich wurde über spezifisch reformierte Bedingungen gesprochen, die Missbrauch begünstigen. Beispielsweise, dass charismatische Personen im reformierten Umfeld eine besondere Achtung genössen und ein Hang zu Harmonie und Vergebung herrsche.

Triggerwarnungen vor heiklen Fragen

Die Studie der Reformierten könnte die grösste Umfrage zu sexuellem Missbrauch werden, die es in der Schweiz je gab. Die Verantwortlichen der Universität Luzern rechnen damit, dass 20 000 Personen den Fragebogen ausfüllen. Bisherige Studien zu sexualisiertem Missbrauch in der Schweiz weisen kleinere Fallzahlen auf und haben einen engeren Fokus, beispielsweise auf Kinder oder Frauen.

Agota Lavoyer ist Expertin für Prävention von sexualisierter Gewalt und findet die Studie «extrem begrüssenswert». Die Datenlage zur Verbreitung von sexualisierter Gewalt in der Schweiz sei sehr schlecht. «Neue Erkenntnisse würden die Notwendigkeit der Prävention zusätzlich betonen.» Allerdings mahnt Lavoyer, dass die Fragen zusammen mit Fachpersonen formuliert werden sollen. Denn bei Befragungen bestehe die Gefahr, dass Opfer retraumatisiert würden.

An der Universität Luzern ist man sich der Problematik bewusst. Vor heiklen Fragen solle es eine Triggerwarnung geben und auf Hilfestellen für Opfer und Betroffene verwiesen werden, sagt der Religionssoziologe Anastas Odermatt. Zusammen mit Antonius Liedhegener soll er die Studie leiten. Vorausgesetzt, die Reformierten sind bereit, ihre Verfehlungen aufzuarbeiten.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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